Vom News-Junkie zum News-Deprivierten?

Vor kurzem hat das fög zum vierzehnten Mal sein «Jahrbuch Qualität der Medien» publiziert. Im Rahmen dieser Publikation wird jeweils auch erhoben, welche journalistischen Produkte die Menschen in der Schweiz über welche Kanäle konsumieren. In diesem Zusammenhang wird seit Jahren der Begriff der «News-Deprivation» im medienpolitischen Diskurs verwendet. Ein Konzept, welches vom fög entwickelt wurde, sich aber international bisher nicht wirklich durchsetzen konnte. Auf internationaler Ebene spricht man eher von «News Avoidance», wobei dieses Konzept gemäss den Studienautoren nicht deckungsgleich mit News-Deprivation ist.

Die News-Deprivierten lesen keine gedruckten Zeitungen, keine E-Paper-Ausgaben und auch keine kostenlosen Pendlerzeitungen, sie rufen nicht einmal die Websites dieser Medienmarken direkt im Internet auf. Sie schauen sich keine News-Sendungen im linearen Fernsehen an und hören kaum Nachrichten im Radio. Sie informieren sich hauptsächlich online, in der Regel über Social Media.

Die Gruppe der News-Deprivierten ist erneut gewachsen und kommt mittlerweile auf einen Anteil von 46 %. News-Deprivierte seien nicht nur Menschen, die bewusst auf News verzichten, sondern sie seien ungewollt unterversorgt, weil an den Orten, an welchen sie sich digital aufhalten, wenig qualitativ hochwertige Nachrichten vorhanden sind. Weil sie weniger solche Nachrichten konsumieren, seien sie weniger gut in der Lage am politischen Diskurs teilzunehmen und deshalb sei ein Wachstum dieser Gruppe ein grosses Problem für die Demokratie. Als qualitativ hochwertige Nachrichten werden dabei allerdings nur die Nachrichten betrachtet, die von den klassischen Medienverlagen und Redaktionen erstellt und verbreitet werden. Und hier liegt eines der vielen Probleme bei dieser Sichtweise und des Konzepts der News-Deprivation.

Ich möchte dieser Betrachtungsweise folgende Aspekte entgegenhalten.

  1. Man kann ausgewogen informiert an politischen Diskursen teilnehmen, auch wenn man zur Gruppe der News-Deprivierten gehört, weil die klassischen Medien sowohl die Exklusivität der Berichterstattung über das Weltgeschehen als auch die der Deutungs- und Einordnungshoheit verloren haben. Es gibt Expert:innen, die über verschiedene Kanäle kommunizieren. Es gibt neue Formate und Kanäle, wie Podcasts, Newsletter, Blogs oder Videos von Konzernunabhängigen Publizist:innen und kleinen Redaktionsteams, die qualitativ hochwertige Informationen veröffentlichen. Insbesondere auch für die Verbreitung von Meinungen haben die klassischen Medien ihre Exklusivität verloren.
  2. Die klassischen Medien orientieren sich selbst zunehmend am Geschehen, wie es sich in den Sozialen Netzwerken darstellt. Sie werden damit ihrer selbst ernannten Rolle der nüchternen Instanz der Einordnung oder der Definition von Relevanz immer weniger gerecht, da sie oft einfach das als relevant erklären, worüber in den Sozialen Medien am intensivsten gestritten wird.
  3. Die klassischen Medien bieten kaum Transparenz in Bezug auf die Herkunft ihrer Geschichten und in der Frage der Gewichtung der Relevanz, was ein Grund sein dürfte, warum das Vertrauen sinkt. Es wird über Studien berichtet, ohne diese korrekt zu nennen. Es werden kaum Links auf Quellen gesetzt oder diese so bezeichnet, dass man sie prüfen könnte. Es wird nie erwähnt, wenn eine Story von aussen, z. B. von Behörden, Verbänden oder Unternehmen gepitcht wurde. Damit meine ich natürlich nicht Whistleblower sondern klassische PR. Es wird nicht darauf hingewiesen, dass man ein Interview mit einer berühmten Persönlichkeit angeboten bekommen hat usw.
  4. In den Sozialen Netzwerken, aber auch durch andere Möglichkeiten des digitalen News-Konsums, werden natürlich auch Links, die zu Beiträgen der klassischen Medien führen, geteilt und kommentiert. Nur sind diese nicht mehr die alleinigen Quellen für eine Information. Das Internet ist ein Netzwerk von Kommunikationsknoten, ein weitverzweigter und manchmal auch sehr dichter Kommunikationsraum. Im Jahr 2024 eigentlich eine Binsenwahrheit, aber es scheint mir nötig zu sein, wieder einmal darauf hinzuweisen. Die Idee, dass man zu einem Thema einen Beitrag aus «seiner» Zeitung liest und dann genügend informiert ist, um an der Demokratie teilzunehmen, scheint mir ziemlich absurd zu sein.

Ich selbst gehörte bis heute der Gruppe der Intensiv-Nutzer:innen, gemäss fög-Klassifikation, an. So lese ich seit Jahren bis zu vier abonnierte Tageszeitungen. Jeden Morgen, die Aargauer Zeitung, die NZZ, den Tages Anzeiger, das Zofinger Tagblatt in dieser Reihenfolge als E-Paper. Danach die Republik und meine RSS-Feeds. Vor dem Aufstehen, die Nachrichten auf SRF. Über Mittag das Rendez-Vous, manchmal inklusive Tagesgespräch, am Abend manchmal das Echo der Zeit und immer seltener, um 19.30 die Tagesschau auf SRF. Dazu CNN-Clips auf YouTube, diverse Newsletter, Social Media usw. Dazu kommen die Sonntags- und Wochenzeitungen sowie die Magazine von Tages-Anzeiger und NZZ. Während ich das hier aufzähle, wird mir noch einmal bewusst, was für ein News-Junkie ich eigentlich bin. Obwohl ich, seit es möglich ist, und wo immer es möglich ist, auf digitale Kanäle setze, hatte ich immer den Eindruck, dass das abgeschlossene Format der Zeitung gegenüber dem endlosen Informationsstrom im Netz gewisse Vorteile hat. Hier habe ich vor über zehn Jahren mal festgehalten, was mir die Zeitung zu leisten vermag.

Im Gegensatz zum fög Jahrbuch stelle ich allerdings eine kontinuierliche Abnahme der Qualität der Outputs der meisten klassischen Medien, die ich konsumiere, fest. Und zwar sowohl was die Auswahl der Themen, als auch die Qualität der Berichterstattung betrifft. Es gibt zwar immer wieder Höhepunkte, aber insgesamt nehme ich einen deutlichen Abwärtstrend wahr. Insbesondere bei den reichweitenstarken Publikationen der grossen Verlagskonzerne. Es werden offensichtlich von PR-Agenturen konstruierte Geschichten unkritisch transportiert. Es werden Pseudo-Interviews mit politischen und wirtschaftlichen Führungskräften produziert. Es werden unwichtige persönliche Konflikte über mehrere Beiträge hinweg bewirtschaftet, um möglichst jede Aufmerksamkeits-Sekunde herauszupressen. Es werden Nebenschauplätze aus den Social Media aufgenommen, aufgebauscht und ausgeschlachtet, um Klicks zu generieren. Ist es da nicht verständlich, dass sich Menschen, wie ich, fragen, warum sie sich das antun und dafür auch noch mehrere Hundert Franken pro Jahr und Medium ausgeben sollen?

Ich glaube nicht, dass unsere Demokratie in Gefahr ist, weil immer mehr Menschen darauf verzichten, Inhalte zu konsumieren, die von reichweitenstarken privaten Medienkonzernen publiziert werden. Aus meiner Sicht ist der weitaus grösste Teil der von diesen Medien produzierten Inhalte nicht demokratierelevant. Es ist eine ziemliche Anmassung zu behaupten, dass die Demokratie nicht mehr funktionieren würde, wenn die Medienwelt der Verlagskonzerne unterginge.

Ich meine damit nicht, dass wir keinen Journalismus brauchen. Aber ich bin sicher, dass wir einen anderen Journalismus brauchen, vor allem einen anders finanzierten Journalismus. So lange die Produktion von Nachrichten von Werbung abhängig ist, oder dann, wenn sie durch die Rezipient:innen finanziert wird, die Ergebnisse hinter Paywalls verschwinden, so lange wird der Niedergang weitergehen. Es wäre auch an der Zeit, die Frage, wer eigentlich journalistische Leistungen, die tatsächlich demokratierelevant sind, erbringt, etwas offener anzugehen und es wäre wichtig, zu erkennen, dass die journalistische Produktion ein kollektiver Prozess ist. Dass es im Zeitalter der Digitalität nicht auf den einzelnen Beitrag ankommt, sondern dass der gesamte Korpus aller produzierten Beiträge und deren Vernetzung den gesellschaftlichen Wert bilden.

Ich möchte in einem Selbstversuch herausfinden, ob meine Fähigkeit, ein Bürger zu sein, der sich informiert und konstruktiv am demokratischen Prozess beteiligen kann, durch den Verzicht auf den direkten Konsum der klassischen Medien wirklich verloren geht.

Ich werde meine Abos zwar vorerst weiter laufen lassen, aber ich werde vorläufig am Morgen keine Zeitungen (E-Papers) mehr lesen. Allerdings werde ich neben den Social Media weiterhin einen RSS-Feedreader nutzen und dort auch Feeds der klassischen Medien abonniert haben. Auch um herauszufinden, was ich davon wirklich noch als relevant und nützlich erlebe. Ich werde versuchen eine Art Medienkonsum-Tagebuch zu führen, um zu sehen, welche Quellen ich nutze und ich werde gelegentlich, jeweils mit ein paar Tagen Abstand, die E-Papers meiner abonnierten Zeitungen durchblättern, um zu sehen, ob es etwas Wichtiges gibt, was ich verpasst habe. Ich habe vor, hier sporadisch über meine Erfahrungen zu berichten und dieses Experiment drei bis sechs Monate laufen zu lassen. Danach werde ich mich entscheiden, ob ich mich definitiv zu den News-Deprivierten gesellen und trotzdem Citoyen bleiben kann.

Mir ist bewusst, dass ich in diesem Beitrag einige Aspekte des Konzepts der News-Deprivation nicht ausreichend beleuchtet habe. Auch ist mir klar, dass meine Darstellung der Rolle der klassischen Medien, insbesondere der privaten Medienkonzerne, durchaus kritisch und stellenweise einseitig ist. Die positiven Seiten sowie die komplexen Herausforderungen, denen die Medienindustrie insgesamt gegenübersteht, habe ich bewusst weggelassen. Ich habe mir das erlaubt, weil dieser Teil der Geschichte ja bereits vom Verband Schweizer Medien und den Verlagshäusern immer wieder erzählt wird. An dieser Stelle möchte ich auch auf den Verband Medien mit Zukunft hinweisen, der die Interessen der Medienproduzierenden, die nicht einem der grossen Verlagskonzerne angehören, vertritt und bei dem mein Unternehmen auch Mitglied ist.

Während meines Selbstversuchs möchte ich tiefer auf einige der hier nur angerissenen Punkte eingehen. Zum Beispiel werde ich mich der Frage widmen, woher die Nachrichten kommen, die ich konsumiere, und inwiefern diese tatsächlich qualitativ hochwertig sind und ob die Interessen hinter den Beiträgen erkennbar sind. Ich möchte genauer hinterfragen, welche Bedeutung der klassische Nachrichtenkonsum wirklich für die politische Teilhabe hat und wie es um die Demokratie-Relevanz der verschiedenen Quellen steht. Auch die Frage, welche ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen die unterschiedlichen Medienformate prägen, möchte ich vertiefen. Ferner werde ich mich mit der Definition und den Annahmen des Begriffs der News-Deprivation selbst auseinandersetzen, um zu klären, ob meine ursprüngliche Kritik daran wirklich berechtigt ist.

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